Juline Junge
Unsere Aufgabe als Architekt:innen ist es Space zu erschaffen. Durch die Manipulation und das Spiel mit räumlichen Parametern kreieren wir eine Atmosphäre. Diese wird so entworfen, um alle Sinne des menschlichen Körpers anzusprechen. Erst durch das intuitive Handeln des menschlichen Körpers wird aus einem Space ein Place.
Im Rahmen des Seminars SPACE + BODY = PLACE untersuche ich diese Abfolge in umgekehrter Reihenfolge. Beginnend mit WHAT werden alle auftretenden Sinneseindrücke und Gefühle, die ein Ort hervorruft, erfasst. Danach wird der Ort in HOW auf seine räumlichen Parameter untersucht. Zuletzt wird in WHY eine Begründung für diese räumlichen Parameter gefunden, in Bezug auf die Zeit der Erbauung, die geografische Lage oder anderen Einflüssen auf den Ort.
LOSGELÖST ist frei von Erwartungen meines bisherigen Architekturverständnisses und konzentriert sich darauf, den für mich neuen Ansätzen Raum zu geben und mich unvoreingenommen auf den Prozess einzulassen.
A visit to the Haus Lemke in Berlin, built in 1933 by Mies van der Rohe…
WHAT
UNBESCHWERT
Blätter fallen. Der Wind weht mir durch die
Haare. Der Herbst wird spürbar. Das Tor steht
offen und ich fühle mich in den Garten gezogen.
Abstand von der Gruppe. Ich verspüre den
Drang mich hinzusetzen und inne zu halten.
Entschleunigend. Das Rauschen der Blätter
übertönt meine Gedanken. Bevor ich etwas
aufschreibe, möchte ich den Ort auf mich wirken
lassen. Ruhe und Vertrautheit steigen in mir
auf. Ich richte meinen Blick auf das Haus und
erkenne die Gebäude im Hintergrund. Ich fühle
mich klein und leicht, ganz unbeschwert. Ein
sanftes Gefühl.
HOW
LEICHTIGKEIT
Große Fensterfront. Kontrast der Materialien.
Glas und Mauerwerk. Leicht und schwer.
Einsehbarkeit der Räume von Außen
möglich. Offenbarung von Verborgenem.
Zerbrechlichkeit der Ausstellungsobjekte
durch Fenster erkennbar. Viel Natur. Sehr viel
größere und höhere Gebäude im Hintergrund.
Eingeschossigkeit. Einzelner Baum auf Terasse.
WHY
MIES VAN DER ROHE HAUS
Das Haus Lemke wurde für Karl und Martha
Lemke 1933 in Berlin gebaut durch Mies van
der Rohe. Aus Sparsamkeitsgründen wurde der
Backstein für das Haus gewählt, doch dadurch
konnte Mies seine Liebe zu dem Material offen-
baren. Der Ziegel als kleinste Einheit findet sich
in vielfacherer Vergrößerung in den Propor-
tionen der Baukuben des Hauses wieder.
Die Wirkung des Hauses beruht auf der Einheit
der Gegensätze – Glatt & Rau, Offen & Ges-
chlossen. Mit den wandgroßen Fensterflächen,
öffnet sich das Gebäude zur Natur. Mies´
Hauptziel ist es Natur, Häuser und Menschen in
einer höheren Einheit zusammenzubringen.
KÜHL
Das Eingangstor steht zwar offen, aber trotzdem
wirkt der Ort nicht einladend auf mich.
Wäs wäre, wenn der Ort des Ankommens
seine kühle Stimmung ablegt und eine neue
Atmosphäre erhält? Ein Ort, der Menschen
zusammenführt und zum Verweilen einlädt.
WHAT
VERTRAUT
Ich kann mich nicht ganz frei bewegen, wie im
Garten. Ich fühle mich Innen eingeschränkt.
Das Gefühl eines Zuhauses, das mich beim
Betreten der Räume durchströmte, verblasst. Ich
verlasse das Haus und schaue von außen in die
Räume in die ich keinen Zugang hatte. Es fühlt
sich verboten an. Durch das Fenster erkenne
ich ein Zimmer mit Tisch, Stuhl und ganz vielen
Büchern. Es sieht so aus als ob dort wirklich
jemand arbeitet und Zeit verbringt. Ein viel
persönlicherer Raum als die anderen zuvor. Hier
ist es wieder – ein Gefühl von Zuhause.
HOW
NÄHE
Offen stehende Tür. Fließende Stoffe der
Vorhänge. Bei jedem Türöffnen wehen die
Vorhänge leicht durch den Luftstoß. Große
Fensterfront. Fensterraster. Bezug zur
beruhigenden Natur. Geruch eines Zuhauses.
Warme Materialien. Holzparkett. Positive
Assoziationen mit Keramikausstellung. Obst.
Gefühl von einem wohligen Zuhause entsteht.
WHY
MIES VAN DER ROHE HAUS
Mit dem Haus Lemke hat Mies ein unaufgeregtes
Meisterstück, ein bescheidenes Gehäuse für
den modern gesinnten Menschen entworfen.
Es ist so einfach und so weit zurückgenommen,
dass es fast nichts mehr Besonderes zu sein
scheint. Das Haus Lemke soll seine Bewohner:in-
nen/Besucher:innen von der Alltagswelt ab-
schirmen und vor Störungen schützen und so
ein versunkenes Betrachten der Welt möglich
machen. Jeder Raum des Hauses erhielt bei
der Ausstattung einen anderen Charakter: die
Möblierung sorgte für einen warmen Farbklang
und das dunkle Eichenparkett mit hellen Wän-
den/Decke spielte mit Hell-Dunkel-Kontrasten.
EINGESCHRÄNKT
Durch die offen stehende Tür komme ich vom
Garten ins Haus. Stille. Es riecht nach einem
Zuhause. Ein Geruch den ich nicht beschreiben
kann, aber jedes Zuhause hat seinen eigenen
Geruch und so auch dieser Ort. Ganz vorsichtig
erkunde ich die einzelnen Räume. Sie sind sehr
hell und ich kann durch die großen Fenster
den Garten wahrnehmen. Trotz der Verbindung
zur Natur, haben die Innenräume eine andere
Stimmung in mir ausgelöst als der Garten zuvor.
Ich frage mich, ob ich die gleichen Gefühle
gehabt hätte, wenn ich zuerst ins Haus und
danach in den Garten gegangen wäre?
Der Begriff Architecture as Surrounding aus Peter Zumthor´s Buch “Atmospheres” beschreibt den Versuch, Architektur als menschliche Umgebung zu begreifen. Orte, die zum Teil des Lebens der Menschen werden und Erinnerungen und Gefühle wecken, die die Atmosphäre einst erzeugt hat, und ganz individuell ausfallen.
Ebenso aus Zumthor´s Buch hat der Begriff Surrounding Objects mir gezeigt, dass durch die Nutzer:innen Gegenstände Teil der Architektur und der Atmosphäre werden, die ich als Architektin nicht geplant habe. Die Erkenntnis, dass eine Zukunft für den Ort ohne mich als Planerin existiert, hat mir sehr geholfen, Rücksicht auf die Nutzer:innen zu geben, aber auch die eigentliche Aufgabe für mich als Architektin zu erkennen – Space für Nutzer:innen erschaffen und durch räumliche Parameter eine Atmosphäre kreieren. Aber erst durch die Nutzer:innen und das individuelle Handeln wird aus dem Space ein Place, auf den ich nur bedingt Einfluss habe.